Wie schon angekündigt, möchte ich hier eine Geschichte erzählen, die ich schon viele Male erzählt habe und die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, wenn ich an sie denke.
Rüttelpulte zu kaufen - nur an Selbstabholer in der Nähe von Paris
Vor einigen Jahren entdeckte ich ein Angebot mit sinngemäßer Überschrift im Internet: Ein gewisser Ludovic A. verkaufte historische Rüttelbretter und Rüttelpulte. Er hatte einige Champagner-Regale, die ich unbedingt kaufen wollte, zumal schon damals der Markt relativ leer gefegt war. Der Preis war absolut in Ordnung, insofern war es ein untergeordnetes Problem, dass Ludovic nicht - wie sonstige gelegentliche Anbieter - in der Champagne beheimatet war, sondern im wesentlich weiter entfernten Saint-Maur-des-Fossés. Dieser Ort liegt im südöstlichen Bereich des "Speck-Gürtels" von Paris und hat knapp 75.000 Einwohner.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Franzosen, auf die ich in den letzten Jahren in Frankreich getroffen bin, sprach Ludovic kein einziges Wort Englisch, was die Kommunikation erschwerte und auf E-Mails beschränkte, in denen ich mich eines Online-Übersetzers bediente. Ich habe mich in der Schulzeit leider für Latein entschieden und meine "Brocken" Französisch waren zu der Zeit noch limitierter, als sie es auch heute noch sind.
In dieser Zeit habe ich häufig auf Reisen Mitfahrer über ein Mitfahr-Portal mitgenommen. Hier gab es wirklich interessante bis außergewöhnliche Begegnungen, über die ich vielleicht auch einmal erzählen werde. Bei Frankreich-Reisen beschränkte ich mich immer auf die Hin-Fahrt. Einmal jedoch - an jenem Tag - bot ich auch eine Rückfahrt an, da die Route Paris-Köln zu der Zeit sehr beliebt war. Auch wenn es inzwischen Spätherbst und damit nicht gerade die "Top-Reisezeit" war.
Der Mitfahrer sollte eigentlich erst auf der Rückfahrt zusteigen, doch es ergab sich, dass er zu früh im Norden von Paris war und ich beschloss, ihn vor der Abholung der Champagner-Regale einzusammeln. Ich erinnere mich noch, dass es sich um einen sehr smarten Studenten mit marokkanischen Wurzeln handelte, der mit seinem Notebook auf der Fahrt an einer App arbeitete, die er programmierte. Zudem sprach er fließend Deutsch und Französisch; und vermutlich noch weitere Fremdsprachen.
Die Fahrt nach SMDF war sehr kurzweilig und nach einer längeren Fahrt durch verschiedene typischen "Vorort-Wohngebieten" der überraschend großen Stadt und vorbei an hunderten Menschen auf den belebten Straßen, kamen wir schließlich in einem ruhigen Ein-Familienhaus Wohngebiet an, in der wir das Haus von Ludovic fanden. Leider war dieser aber überhaupt gar nicht nicht zuhause! Wir klingelten mehrfach. Niemand öffnete.
Mitfahrer erweist sich als Glücksfall
Dem Zufall - oder besser gesagt dem Mitfahrer - sei dank, konnte ich ihn anrufen und fragen, warum er nicht wie verabredet zuhause ist. Ludovic musste kurzfristig ins Krankenhaus. Nicht als Patient, wofür ich Verständnis gehabt hätte. Er war Krankenpfleger und erfuhr morgens, dass er arbeiten musste. Warum er mir noch nicht einmal eine Mail schickte, weiß ich bis heute nicht. Aber nachdem er später wiederholt versuchte, mir ganz schlechte Qualität und selbst (leider schlecht) restaurierte Champagner Rüttelpulte zu verkaufen, zweifelte ich erneut an seinem Charakter und brach irgendwann den Kontakt ab.
Ludo, wie er sich selber nannte, entschuldigte sich und bat uns - den Mitfahrer und mich - seinen Nachbarn links neben seinem Haus zu kontaktieren. Sollte das sein "Notfall-Plan" gewesen sein, so hat er ihn ganz sicher nicht komplett durchdacht und schon gar nicht mit seinem Nachbarn besprochen. Uns wurde in jedem Fall nicht geöffnet. Nebenan war niemand zuhause. Als Alternative schlug er dann den Nachbarn rechts neben seinem Haus vor. Auch hier wurde die Türe nicht geöffnet. Nachdem schließlich auch der Nachbar zwei Häuser weiter nicht anzutreffen war, bat er uns schräg gegenüber zu klingeln. Seine letzte Option. Es war - im Gegensatz zu den Häusern auf der anderen Straßenseite - ein etwas 20 Meter nach hinten von der Straße weg versetztes Haus, von dessen Eingangstüre ein Kiesweg zum Tor führte, vor dem wir standen. Wir betätigten die Klingel mit dem Namen "Garcia", den Ludovic uns genannt hatte. Ludovic kannte diesen Nachbarn nur flüchtig. Ein junger Mann, G. Garcia, öffnete zunächst die Türe und kam dann, gefolgt von zwei kleinen Kindern, zu uns zum Tor am Zaun. Mein Mitfahrer erklärte kurz die Situation und übergab ihm das Telefon, damit Ludo seinem Nachbarn die Situation erklären konnte und vor allen Dingen wie er ins Haus kommt. So dass wir an die Rüttelpulte gelangten und Ludo wiederum über Herrn Garcia das Geld dafür erhalten würde. Das Öffnen der Türe klappte übrigens ganz ohne Schlüssel. Das Geheimnis war ein lockerer Glaseinsatz der Butzenscheibe an der Türe.
"I know you!"
Als die Türe geöffnet war, winkte uns G. in Ludos Haus. Wir hatten mit dem "gebührenden" Abstand gewartet.
In dem Augenblick als ich durch die Türe in den dunklen Flur trat und gerade an G. Garcia vorbei ging, blickte er mich an und sagte vollkommen unvermittelt, zum ersten Mal Englisch sprechend: "I know you! I have seen you before!"
Ich erschrak ein wenig, denn der Moment war wirklich ein wenig gruselig. Erstens erwartete ich nicht, dass ich in einer Stadt, deren Existenz mir bis vor wenigen Tagen nicht bekannt war, jemanden treffen könnte, dem ich zuvor jemals begegnet wäre und zweitens hatte er sich einen Moment ausgesucht, in dem ich aus dem Hellen ins Dunkle trat und kurz kaum etwas - und ihn selber nur im Umriss - sehen konnte. Außerdem fehlte der Frage jede Leichtigkeit. Ich glaubte wahrscheinlich im ersten Moment, dass G. eine Schraube locker hätte. Sehr nett und hilfsbereit, aber ein wenig "durcheinander". Vermutlich erwartete ich, dass er als Nächstes etwas von einer Seele spricht, die er aus einem anderen Leben kannte. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich antwortete allerdings höflich, dass ich zum ersten Mal hier wäre und er mich wohl verwechselte. Aber er war sich sicher und sagte dann, wir wären uns im Sommer in Italien im Urlaub begegnet. Meinen Sommerurlaub verbrachten wir allerdings in Norwegen, was ich ihm erklärte. Ich hätte wohl einen Doppelgänger. Oder ein Allerwelts-Gesicht. Er widersprach mir und ließ keinen Zweifel daran, dass ich mich irrte. Ende Mai oder Anfang Juni wäre ich in der Toskana gewesen. In einem kleinen Dorf in den Bergen unweit von Florenz. Der Name fiel im nicht mehr ein. Seine Kinder hätten mich auch erkannt. Ich hätte einen schwarzen Hund dabei gehabt und wäre alleine gewesen. Schwarzer Hund!? Nero?? Jetzt musterte ich ihn genauer und versuchte in meinen kurzzeitig verwirrten Erinnerungen eine Übereinstimmung zu finden.
Schlagartig erinnerte ich mich daran, dass ich 1 Nacht (!) in einem Dorf nördlich von Pistoia (das liegt ca. 40 KM westlich von Florenz) in einer kleinen Pension übernachtet hatte. Wie immer war Nero bei mir! Aber ich hatte dort eigentlich nur Kontakt zu Einheimischen. Ich war dort allerdings nicht wirklich im Urlaub, sondern unterwegs nach Montalcino, um auf einer (urlaubhaft schönen) Kurzreise leckeren Wein zu kaufen. Leckeren "einfachen" Wein und richtig hochwertigen Wein. Also einmal einen Wein, den man jederzeit wunderbar trinken kann und dann noch verzüglichen lagerfähigen Wein, den berühmten Brunello di Montalcino. Den kann man natürlich auch wunderbar trinken. Aber ein Wein, der eben preislich mit guten Champagner mithalten kann und den man insofern nicht "jederzeit" trinkt. Der Wein für den besonderen Moment sozusagen. Solche Weine kauft man - gerade in größeren Mengen - am besten vor Ort. Denn dann kann man die aktuellen Jahrgänge vor Ort ausgiebig kosten. Ein großes Vergnügen in einer Fattoria wie der Fattoria dei Barbi. Daher war ich damals vor Ort. Und deswegen hatte es mich zu dieser Zwischenstation verschlagen.
Jetzt erinnerte ich mich. Beim Frühstück kam eine nette Familie mit zwei kleinen Kindern in den Frühstücksraum, die Nero streicheln wollten. Wir sprachen vielleicht 3 Sätze. Das ganze war inzwischen über 6 Monate her. Und Nero war heute gar nicht bei mir. Die Begegnung fand im Bergdorf San Mommè (auch Samommè) statt. Dieses Dorf hat laut Wikipedia 176 Einwohner und ist nur über einen abenteuerlichen Serpentinen-Anstieg zu erreichen.
Wir waren beide vollkommen überwältigt von diesem Zufall. Er versicherte, dass er mich sofort nach dem Öffnen der Türe erkannte - aus gut 20 Metern Entfernung - und sich wunderte, was der Mann vor seiner Haustüre wollte, den er Monate zuvor kurz in einer Berg-Pension in Italien getroffen hatte.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Franzose und ein Deutscher sich innerhalb eines halben Jahres zweimal begegnen: In einem 176 Seelen Dorf und später in einem über 1000 KM entfernten Ort mit 75,000 Einwohnern. Und das auch nur deswegen, weil Ludovic kurzfristig zum Dienst gerufen wurde und 3 (!) seiner Nachbarn an diesem Freitag Nachmittag nicht zuhause waren? Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich nach einer eher beiläufigen Begegnung überhaupt wieder erkennt. Das beruhte ja auch in diesem Fall keineswegs auf Gegenseitigkeit.
Irgendein Bekannter berichtete mir mal, dass er einen Arbeitskollegen auf Mallorca getroffen hatte. Ein anderer hatte einen Kollegen oder Bekannten in Barcelona getroffen. Ja, sicher, das sind natürlich auch große Zufälle. Aber in unserer Region in und um Köln herum, kommen viele Menschen zusammen, und viele Menschen fahren in Metropolen wir Barcelona oder zur Mutter des Massen-Tourismus nach Mallorca. Das trifft allerdings absolut nicht auf Orte wie Saint Maur oder San Mommè zu. Außerdem kamen in beiden Fällen meiner Bekannten die Beteiligten aus der gleichen Gegend und der Zufall "schlug folglich nur an einem Ort zu".
Der tiefere Sinn...
Welche höhere Macht wollte uns was damit sagen!? Herr Garcia und seine Familie (er und seine Frau sind beide studierte Physiker und weit weg davon, an unerklärliche Phänomene zu glauben) luden mich spontan ein, beim nächsten Mal, wenn ich bei Ludovic Champagner-Regale kaufen würde, bei ihnen zu Abend zu essen und dort zu übernachten.
Das tat ich dann auch ein paar Wochen später. Auf ausdrücklichen Wunsch der Kinder brachte ich diesmal Nero mit. Zur Begrüßung gab es "echte" Macarons von Pierre Herrmé aus Paris, die ich sowohl vorher und als auch nachher nicht wieder in derart wohlschmeckender Qualität genossen habe.
G. und ich holten später gemeinsam die Kinder von der Schule ab, und seine Frau bereitete klassisches Raclette vor, wie es in Frankreich gegessen wird. Wie auch beim Schweizer Original wird nur der Käse erwärmt. Dazu werden vorgekochte Kartoffeln und verschiedenen italienischen Wurst Spezialitäten serviert. In Frankreich gibt es übrigens eine riesige Auswahl an Raclette Käse, von denen einige zur Auswahl standen.
Während des ausgezeichneten Abendessens berichtete G., dass er am Freitag nach unserer Begegnung vor seinem Haus zum ersten Mal in seinem Leben Lotto gespielt hätte. Ob er zuvor ausgerechnet hatte, dass die Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns der unseres Wiedersehens gleich kam, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings ist er ja Physiker und kein Mathematiker. Genau wie er beim Glücksspiel konnten wir auch keinen Erfolg erzielen bei dem Versuch, Gemeinsamkeiten und "Gründe" für diesen Zufall zu finden. G. Garcia war zwar großer Anhänger von Sven Väth, einem deutschen Techno-Musiker und DJ. Aber das war auch sein einziger Bezug zu Deutschland. Und in der Beantwortung der Frage wenig hilfreich, da ich mit Techno wenig anfangen kann. Auch wenn ich Väths größten Erfolg, Electrica Salsa, natürlich aus meiner Jugend kenne.
...bleibt bis heute verborgen
Es gab einfach weder Gemeinsamkeiten und keinen erkennbaren übergeordneten Grund. Aber es war natürlich trotzdem ein wunderschöner Abend bei gutem Essen und gutem Wein in sehr netter Gesellschaft. Mannchmal gibt es keinen erkennbaren Grund und keine Erklärung für eine besondere Begebenheit. Auch wenn man es sich wünscht - vielleicht aufgrund eines unterdrückten Glaubens, den man sich nur selten eingestehen möchte -, ist am Ende zuweilen alles einfach nur ein großer Zufall.
Leider haben wir den Kontakt nicht gehalten. Auch haben wir uns nie wieder gesehen. Aber wir haben uns noch ein paar freundschafliche E-Mails geschickt. Und wer weiß: Vielleicht sieht man sich irgendwann an einem dritten Ort. Dann werde ich sofort berichten ;-).
Ich hoffe, Ihnen hat diese (absolut wahre) Geschichte gefallen. Über Kommentare als Nachricht würde ich mich sehr freuen! Über Eure eigenen Geschichten zum Thema "Zufall" noch umso mehr. Zu diesem Thema gibt es übrigens ein wunderbares Büchlein eines meiner Lieblingsautoren, Paul Auster: Das rote Notizbuch. In diesem kleinen und gleichzeitig großartigen nicht-fiktiven Buch, das 1993 veröffentlicht wurde, erzählt Auster die Geschichten einer Reihe von Zufällen aus seinem Leben.
Ich habe zufällig ein Video gefunden, in dem ein junger Mann dieses Buch mit wenigen Worten sehr gut beschreibt. Ich habe es hier für Sie verlinkt.
Liebe Grüße - und da heute Rosenmontag ist: Dreimal Kölle Alaaf
Michael